Rahel Hirsch

Allgemeines

Nachname:
Hirsch
Vorname:
Rahel
Geburtsdatum:
15.09.1870
Geburtsort:
Frankfurt a. M.
Sterbedatum:
06.10.1953
Sterbeort:
London
Beruf des Vaters:
Realschullehrer und Direktor der höheren Töchterschule der israelitischen Religionsgemeinschaft Frankfurt a.M.
Sonstiges:
Hirsch wurde als eines von 11 Kindern einer jüdischen Gelehrtenfamilie geboren. Ihr Großvater, der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888), zählt als Begründer und geistiges Oberhaupt der Neoorthodoxie zu den bedeutendsten Rabbinern des 19. Jahrhunderts. In ihrem Elternhaus genoß sie eine fortschrittliche Erziehung und trieb z. B. mit ihren Geschwistern viel Sport. Zum Medizinstudium entschloß sie sich erst im Alter von 28 Jahren, um den ungeliebten Lehrerberuf aufgeben zu können.

Ausbildung

Ausbildung und Schule:
Höhere Töchterschule in Frankfurt a. M., Mai 1889 Lehrerinnenexamen am Lehrerinnenseminar in Wiesbaden, Tätigkeit als Lehrerin
Studium: April 1898-1903 Medizinstudium in Zürich(Immatrikulation SS 1898 Uni Zürich
Abgang mit Zeugnis 12.10.1899), Straßburg, Leipzig, April 1899 Maturitätsprüfung in Zürich, November 1900 Physikum in Straßburg, 4.7.1903 Staatsexamen in Straßburg, ab 1.10.1903 Volontärassistentin in Berlin an der II. Medizinischen Klinik bei Prof. Dr. F. Kraus
Ort des Staatsexamens:
Straßburg
Datum des Staatsexamens:
1903
Ort der Promotion:
Straßburg
Datum der Promotion:
1903
Datum der Approbation:
1903

Beruf

Fachbezeichnung:
Internistin
Art der Tätigkeit:
Assistenzärztin an der II. medizin. Klinik der Charité bei Prof. Dr. F. Kraus in Berlin (1903-1919),
Leiterin der Poliklinik an der II. medizin. Klinik der Charité in Berlin (1908-1919),
Professorin f. Innere Krankheiten (ab 1913), niedergelassene Ärztin in Berlin (1919-1938), Kassenärztin (bis 1933)
Kommentar zur Tätigkeit:
In den ersten Jahren ihrer Tätigkeit als Assistentin an der II. Medizinischen Klinik der Charité arbeitete Rahel Hirsch über die Schlafkrankheit und über die Ausscheidung verschiedener Substanzen im Blut. Sie war die erste Ärztin, die die "Resorption" grob korpuskulärer Elemente durch die Enterozyten des Dünndarmpithels und ihrer Ausscheidung mit dem Harn feststellte. Nachdem ihre Beobachtungen in der Sitzung der Gesellschaft der Charitéärzte am 7.11.1907 zurückgewiesen wurden, gab sie ihre Forschung in diesem Gebiet auf und beschäftigte sich mit anderen Problemen der inneren Medizin: Fieber und Wärmehaushalt, Diabetes mellitus, Morbus Basedow, Fettsucht. Erst 1960 griff Gerhard Volkheimer an der Charité ihre frühen Befunde wieder auf und bestätigte sie in seiner Habilitationsschrift von 1962 "Durchlässigkeit der Darmschleimhaut für großkorpuskuläre Elemente". Er nannte den Vorgang "Hirsch-Effekt". Unter dieser Bezeichnung ist er heute im Pschyrembel Klinisches Wörterbuch zu finden. Durch Prof. Volkheimer erfuhr die Arbeit Rahel Hirschs eine späte Würdigung. Auf seinen Vorschlag hin wurde sie in die "Galerie berühmter jüdischer Wissenschaftler" in Jerusalem aufgenommen.
Zu Lebzeiten wurde ihr 1913, als dritter Frau in Deutschland und als erster Medizinerin "in Rücksicht auf ihre anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistungen" das Prädikat Professor verliehen. Die Dozentur blieb ihr jedoch, wie auch den beiden Professorinnen der Philosophie (Gräfin Linden und L. Rabinowitsch-Kempner) versagt. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit hielt sie neben zahlreichen Veröffentlichungen verschiedene Vorträge, z. B. "Zur Adrenalinwirkung" auf dem 28. Deutschen Kongreß für Innere Medizin am 22. April 1911 in Berlin. Einen Beitrag zur Frauenbewegung leistete sie mit ihren Vorträgen über die Körperkultur der Frau, die 1913 in einer Publikation zusammengefasst erschien.
Nach ihrem Ausscheiden aus der Charité 1919 war sie bis 1938 in ihrer Praxis mit "großer Röntgeninstallation" im Westen Berlins tätig.
Im Oktober 1938 emigrierte R. H. nach England, nachdem ihr 1933 zunächst die Behandlung arischer Patienten untersagt und die Kassenzulassung entzogen und später das Praxisschild an der Haustür verboten worden war. In London lebte sie bei ihrer Schwester, übte jedoch ihren Beruf nicht mehr aus, da sie sich zum Nachholen der Examina zu alt fühlte. Sie arbeitete noch einige Zeit als Laborassistentin in einer Klinik, später als Übersetzerin für die "Women's Voluntary Association", blieb aber auf die Unterstützung durch den Wohltätigkeitsfonds angewiesen. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem "mental home", einer Nervenklinik, in einem Außenbezirk Londons. Dort starb sie 1953 im Alter von 83 Jahren und wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe von London beigesetzt.
Tätigkeitsorte:
Berlin (1903-1938), dort: II. Medizinische Klinik der Charité (1903-1919?),
Poliklinik der II. Medizinischen Klinik der Charité (1908-1919),
Schiffbauerdamm 36 (1905),
Schöneberger Ufer 31 (1909, 1911), Königin-Augusta-Str. 23 (1926/27),
Kurfürstendamm 220 (1928),
Meinekestr. 21 (ab 5.1931, 1937)
England (1938-1953)
Haupttätigkeitsort:
Berlin
Veränderungen nach 1933:
Jüdin nach dem Gesetz vom 07.04.1933. Entzug der Kassenzulassung 1934. Okt. 1938 Emigration nach Großbritannien, nimmt dort ihren Beruf wohl aus Altersgründen nicht mehr auf, denn sie hätte die Examina wiederholen müssen. Sie arbeitete einige Zeit als Laborassistentin in einer Klinik. Sie lebt von der Unterstützung durch Freunde und Wohltätigkeitfonds. Ihre geistige Verfassung verschlechtert sich durch die Leiden der Emigration so sehr, daß sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Nach einer Lungenerkrankung stirbt sie im Alter von 83 Jahren in einem Londoner Hospital.
Mitgliedschaften:
Berl. Med. Ges. (seit 1904)
Verein f. Inn. Med. u. Kinderhk. (seit 1903), Mitglied der Geschäftskommission (1918)

Literatur

Quellen und Sekundärlitertur

Quellen:
RMK 1911, 1914, 1918, 1926/27, 1928, 1933, 1937
Kraus, Friedrich u.a.: Die neue II. medizinische Universitätsklinik der Charité. II. Aerztliche Einrichtungen - Hörsaal, Laboratorien. (Charité-Annalen 35(1911), S. 64 - 246
Winkelmann, Adelheit: medizinische Betrachtungen zum Hirsch - Effekt. Berlin, Humboldt-Univ., Diss. Med. v. 1965
International Biographical Dictionary, 1983, S. 516
Ziegeler, Weibl. Ärzte, 1993, S. 12
Leibfried, S./Tennstedt, F.,1989, S. 257
Gemkow, Ärztinnen und Studentinnen, 1991, S. 313
Verh. d. Berl. Med. Ges. Ges. jahr 1904, Bd. 35(1905), Mitgliederverzeichnis, 1905, Bd. 36(1906),
Mitgliederverzeichnis
Berliner Ärzte-Korresp. 36(1931), S. 232
Koroth 13(1964), Vol.3 (1964-1966), S. 341
Die Frau 21(1913/14), S. 176, 571
Jahresverz. d. a. d. dtsch. Univ. ersch. Schriften 1903
Verhandl. des Vereins f. innere Med. u. Kinderhk. in Berlin, Leipzig 1904, Leipzig 1919, Mitgliederverz.
Rahel Hirsch Memory Lecture am 7.12.1992: G. Volkheimer: Das Phänomen der Persorption (Historie und Fakten).
Ärztin 2(1996), S: 11-13
Die Frau der Gegenwart. Dt. Zsn. für moderne Frauenbestrebungen. 8 (1913) 3. S.69
Volkheimer, G. Der Übergang kleiner fester Teilchen aus dem Darmkanal in den Milchsaft und das Blut. In: Wiener Medizinische Monatsschrift . Separatdruck aus 114 (1964) Nr. 51/52. S.915-923.
Staatsarchiv Zürich/WebSeite der Uni Zürich: http://www.rektorat.unizh.ch/matrikel/hintro.htm
Archivalien
Pollak, K., Stärkekörner im Blut und Urin (Dtsch. Ärztebl. 77(1989), H.48, S. A 3723/3724
"...Als wäre es nie gewesen." Juden am Ku`damm. hrsg. v. Berliner Geschichtswerkstatt, e. V. Berlin 1990, S.94/95
Rahel Hirsch (1870-1953) (in: Karger-Decker, B., 1991, S. 105/106
Petra Lindner: Hirsch, Rahel. Biologin, Physikerin, Pädagogin. In: Dick/Sassenberg (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 178 ff.
Brinkschulte: "Erst fallen die Frauen aus dem Gedächtnis und dann aus der Geschichte"... Ärztin 2/1996, 11-13
Chevallier, Sonja: Fräulein Professor. Lebensspuren der Ärztin Rahel Hirsch. 1870-1953. Düsseldorf 1998
Volkheimer, Gerhard: Das Phänomen der Persoption (Historie und Fakten). In: Berichte der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, N. F. Bd. 85 (1977), S. 239 - 254
Portrait:
Dtsch. Ärztebl. (1989), H. 48, S. A 3723
"...als wäre es nie gewesen." Juden am Ku`Damm", Berlin 1990, S. 9
Koroth 13(1964), S. 339
Karger-Decker, Bernt, 1991, S. 106
Archiv der deutschen Frauenbewegung: Die Welt der Frau, 1914, S.132
Kraus a.a.O., S. 92, 109, 112

Eigene Publikationen

Publikationen:
Ein Beitrag zur Lehre von der Glykose. Straßburg, Diss. Med. v. 1903
Über das Vorkommen von Stärkekörnern im Blut und im Urin (Zschr. exper. Path. (1906)
Schilddrüse und Glykosurie (aus der II. med. Klinik in Berlin)(Zschr. exper. Path. 5. Bd. H.2)(G./Münch. med. Wschr. 1908/2553)
Mitarb. von: C. E. Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Berlin: Herlet 1912
Thymin und seine Wirkung in der Behandlung des Morbus Basedowii und Thymin als Schlafmittel (Dtsch. med. Wschr. (1913) Nr. 44)(G./Münch. Med. Wschr. 1913/2535)
Fieber und Chininwirkung im Fieber (Zschr. exper. Path. Bd. 13, H. 1)(Münch. Med. Wschr. 1913/1561)
Trypanosomen-Wärmestich-Anaphylatoxin-Fieber beim Kaninchen (aus der II. Med. Klinik in Berlin) (G./Münch. Med. Wschr. 1913/1561)
Adrenalin und Wärmehaushalt (aus der II. Med. Klinik in Berlin) (Münch. Med. Wschr. 1913/1561)
Der gesamte Energie- und Stoffumsatz beim aktiven anaphylaktischen und beim Anaphylatoxinfieber (aus der II. Med. Klinik in Berlin)(Zschr. exper. Path. Bd. 15, H.2)(Münch. Med. Wschr. 1914/889)
Körperkultur der Frau. Berlin 1913 oder 1914
Unfall und Innere Medizin. Berlin 1914
Therapeutisches Taschenbuch der Elektro- und Strahlentherapie. Berlin 1920
Diathemie und Gallenblasenerkrankung. (Münch. med. Wschr. 72 (1925), S. 1029)
Über Intestinol. (Ein neues Präparat gegen Dyspepsie und vermehrte Gasbildung.) (Münch. med. Wschr. 73 (1926), S. 1236 - 1237)
Arteriosklerose in Theorie und Praxis. In: Die Therapie der Gegenwart. N. F. 20 (1918) März. S. 86-89
Therapeutischer Meinungsaustausch: Haemarsin, wohlschmeckendes Präparat. In: Die Therapie der Gegenwart. N. F. 21 (1919) Juni. S.238-239
Die körperliche Ertüchtigung der Frau. Sportärztetagung. Berlin 1924, München 1925
Deskriptoren:
jüdische Abstammung
Gesundheits-/Sexualberatung
Vorberuf
Approbation im Kaiserreich